Wie weit sind die Ermittlungen gegen die mehr als 1.300 Demonstranten vom Tag X?
Am 3. Juni kam es bei einer linken Kundgebung in Leipzig zu Angriffen auf die Polizei. Die Beamten kesselten mehr als 1.300 Menschen über Stunden ein, gegen jede dieser Personen läuft ein Ermittlungsverfahren wegen des Anfangsverdachts auf schweren Landfriedensbruch. Wie ist der aktuelle Stand der Ermittlungen?
Worum geht es?
Am 31. Mai verurteilte das Oberlandesgericht Dresden Lina E. und ihre drei Mitangeklagten wegen brutaler Überfälle auf tatsächliche und vermeintliche Neonazis zu Freiheitsstrafen. Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig.
Für den Sonnabend nach dem Urteil – dem so genannten „Tag X“ – war von linksextremen und linksradikalen Gruppen schon über Monate nach Leipzig mobilisiert worden. Von dort aus hatte die Gruppe um Lina E. operiert. Aufgrund der Militanz einiger Protestaufrufe warnten Sicherheitsbehörden vor massiven Ausschreitungen. Die Stadt Leipzig verbot für den „Tag X“, den 3. Juni, alle Demonstrationen zum Thema Lina E., das sächsische Innenministerium forderte mehr als 4.000 Polizeibeamte aus ganz Deutschland an.
Stattfinden konnte hingegen eine kurzfristig angemeldete Demonstration für Versammlungsfreiheit. Sie sollte in der Leipziger Südvorstadt starten. Unter die bis zu 2.000 Menschen mischten sich auch mehrere hundert Vermummte. Als die Demonstration deshalb nicht loslaufen durfte, versuchte eine Gruppe Vermummter auszubrechen und griff die Polizei mit Steinen und Pyrotechnik an. Eine Person warf einen Brandsatz in Richtung der Beamten. Weitere Stein- und Flaschenwürfe durch Vermummte folgten.
Die Polizei kesselte daraufhin hunderte Teilnehmer ein. Die Identitätsfeststellung zog sich bis in den frühen Morgen des 4. Juni hin, die letzten Personen wurden nach elf Stunden aus der Maßnahme entlassen. Dass Demonstrantinnen und Demonstranten so lange festgehalten wurden, sowie die Ankündigung der Staatsanwaltschaft Leipzig, gegen alle Personen im Kessel wegen (schwerem) Landfriedensbruchs zu ermitteln, zog Kritik auf sich.
Gegen wie viele Demonstrantinnen und Demonstranten laufen Ermittlungsverfahren?
Gegen 1.321 Eingekesselte, darunter 104 Minderjährige, wird wegen schweren Landfriedensbruchs ermittelt. Bis Ende Juli war ihre Zahl noch mit rund 1.000 angegeben worden. Den sprunghaften Anstieg erklärt die zuständige Leipziger Staatsanwaltschaft damit, dass die genaue Zahl erst nach der Zuarbeit durch alle an der „Umschließung“ beteiligten Polizeieinheiten aus mehreren Bundesländern ermittelt werden konnte.
Der diensthabende Staatsanwalt hatte nach der Bildung des Polizeikessels am 3. Juni bei allen Eingeschlossenen einen Anfangsverdacht des besonders schweren Falls des Landfriedensbruchs gesehen. Halten die Ermittler daran auch nach Auswertung diverser Aufnahmen aus dem Polizeihubschrauber, den Kameras von Einsatzbeamten und Live-Streams fest?
Bisher bleibt die Staatsanwaltschaft Leipzig bei ihrer ursprünglichen Einschätzung. Allerdings schränkt sie auf Nachfrage ein, dass noch geprüft werde, ob der für eine Anklage nötige hinreichende Tatverdacht gegen jede der 1.321 Personen bestehe. Bisher sei in keinem einzigen Fall Anklage erhoben oder das Verfahren eingestellt worden. Mit einem baldigen Abschluss von Ermittlungen rechnet die Staatsanwaltschaft „eher nicht“.
Der erste größere Gewaltausbruch durch Vermummte erfolgte um 18:06 Uhr. Gegen 18:17 Uhr war der Polizeikessel bereits weitgehend geschlossen. Unsere Aufnahmen zwischen den beiden Zeitpunkten zeigen, dass nur einzelne Gruppen von Demonstrierenden Steine, Flaschen und Pyrotechnik auf die Polizei warfen und die Lage sehr unübersichtlich war. Müssen sich trotzdem alle Demonstrantinnen und Demonstranten die Gewalthandlungen einer Minderheit zurechnen lassen, auch wenn sie selbst keine Gewalt ausgeübt haben?
Mitgefangen, mitgehangen? Das gilt beim Landfriedensbruch nicht. Jeder einzelnen Person muss die Tat nachgewiesen werden. Strafbar macht sich, wer aus einer Menge Gewalt gegen Menschen oder Sachen ausübt – oder sich unterstützend daran beteiligt bzw. Leute aufstachelt. So regelt es der Paragraph 125 des Strafgesetzbuches.
Die bloße Zugehörigkeit zu einer unfriedlichen Menge reicht nicht aus. Das hat das Oberlandesgericht Dresden auch noch einmal klargestellt, als es einer Haftbeschwerde zum „Tag X“ stattgab. Der Demonstrant Tim W. war im Polizeikessel festgenommen worden und verbrachte wegen des Verdachts auf schweren Landfriedensbruch und Widerstand gegen Polizeibeamte gut zwei Wochen in Untersuchungshaft. Der Vorwurf: Mit einem Transparent, auf dem die Abschaffung der Paragraphen 129 a (terroristische Vereinigung) und 129 b (kriminelle und terroristische Vereinigung im Ausland) gefordert wurde, soll Tim W. Gewalttäter abgeschirmt und unterstützt haben. Die Losungen stufte die Staatsanwaltschaft als „psychische Beihilfe“ ein, weil das Transparent Gewalt legitimiere. Für das alles sah das Oberlandesgericht keine Belege: Tim W. sei weder vermummt gewesen, noch zeige ihn das vorgelegte Polizeivideo in Zusammenhang mit Straftaten. Das Transparent stuften die Richter als Ausdruck von Meinungsfreiheit ein. Den Ermittlern stellte das Oberlandesgericht angesichts der präsentierten Aktenlage ein hartes Zeugnis aus: „Für eine aktive Beteiligung des Beschuldigten an den Krawallen und Gewalttätigkeiten [..] ist nach den bisherigen Ermittlungen nichts ersichtlich.“ (Aktenzeichen: 3 Ws 69/23 OLG Dresden)
Weil ein Brandsatz auf eine Polizeikette geworfen wurde, ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen eines versuchten Tötungsdelikts. Was ist dazu bekannt?
Die Brandflasche wurde in Richtung von Beamten geworfen, landete auf einer Wiese, ohne jemanden zu treffen oder zu verletzen. In Polizei- und Justizkreisen sorgte die Einstufung der Straftat nach Informationen von „MDR Investigativ“ als versuchtes Tötungsdelikt für Erstaunen. Auf Nachfrage teilte die ermittelnde Leipziger Staatsanwaltschaft lediglich mit, dass bei einem Brandsatzwurf in Richtung von Menschen die „Annahme des zumindest bedingten Tötungsvorsatzes […] im Einklang mit der obergerichtlichen Rechtsprechung stehen dürfte.“
Bisher wurde kein Tatverdächtiger gefasst. Im Innenausschuss des sächsischen Landtags berichtet die Polizei, ein Beamter in Zivil habe den Werfer bis in den Polizeikessel verfolgt, konnte ihn aber, möglicherweise, weil er die Kleidung wechselte, nicht mehr wiedererkennen.
Vor allem die Eltern von eingekesselten Minderjährigen haben öffentlich schwere Vorwürfe gegen die Polizei erhoben, weil ihre Kinder teilweise lange festgehalten wurden. Andere Betroffene erklärten, sie seien als Unbeteiligte völlig willkürlich in den Polizeikessel geraten. Wird auch gegen Polizeibeamte ermittelt?
Nach Auskunft der Staatsanwaltschaft Leipzig wurden bisher 14 Strafanzeigen gegen Polizisten erstattet. Die meisten zielen auf Körperverletzung im Amt, Nötigung und Beleidigung; eine Anzeige erfolgte wegen des Verdachts auf Freiheitsberaubung. Der Mann, der sie erstattet hat, ist ein 42-jähriger Leipziger. Er sagte „MDR investigativ“, er habe mit seinem Fahrrad auf der Wiese des Alexis-Schumann-Platzes gestanden und das Geschehen beobachtet. Dann sei er von Polizisten mitgenommen worden. Er habe noch sein Fahrrad anschließen dürfen und dann mehrere Stunden mit Handfesseln im Kessel verbracht. Erst gegen 02.00 Uhr, nach mehr als sieben Stunden, habe er gehen dürfen.
Bisher, sagt der Mann, hätten ihn die Ermittlungsbehörden weder schriftlich über die Vorwürfe gegen ihn noch über den Stand seiner Anzeige informiert. Die Staatsanwaltschaft verwies darauf, dass die Ermittlungen in allen Fällen noch nicht abgeschlossen seien.
Bei den Eingekesselten beschlagnahmte die Polizei insgesamt 383 Handys. Sind sie von den Ermittlern bereits ausgewertet worden?
Zum Auslesen der Mobiltelefone wollte sich die Staatsanwaltschaft Leipzig unter Verweis auf die laufenden Ermittlungen nicht äußern. Sie teilte lediglich mit, dass 62 Handys zurückgegeben worden seien, weitere 94 lägen zur Abholung bereit.